Wenn der Körper nicht mehr mitmacht: ME/CFS verstehen
Was ist ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom)? Ein Überblick über diese oft missverstandene Erkrankung.
ME/CFS gehört zu den am meisten missverstandenen Erkrankungen unserer Zeit. Betroffene kämpfen nicht nur mit schweren Symptomen, sondern auch mit Unverständnis und fehlender Anerkennung. Was steckt hinter dieser komplexen Erkrankung?
Was ist ME/CFS?
ME/CFS steht für Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom. Es handelt sich um eine schwere, chronische Multisystemerkrankung, die verschiedene Körpersysteme betrifft:
- Immunsystem
- Nervensystem
- Energiestoffwechsel
- Kreislaufsystem
Schätzungen zufolge sind in Deutschland etwa 250.000-300.000 Menschen betroffen. Frauen erkranken häufiger als Männer.
Das Leitsymptom: Post-Exertional Malaise (PEM)
Das wichtigste Merkmal von ME/CFS ist die Post-Exertional Malaise – eine Verschlechterung der Symptome nach körperlicher oder geistiger Anstrengung:
- Symptomverschlechterung oft verzögert (12-72 Stunden später)
- Kann Tage, Wochen oder länger anhalten
- Bereits minimale Aktivitäten können PEM auslösen
- Unterscheidet ME/CFS von “normaler” Erschöpfung
Wie unterscheidet sich PEM von normaler Müdigkeit?
| Normale Müdigkeit | ME/CFS mit PEM |
|---|---|
| Bessert sich durch Ruhe | Ruhe reicht oft nicht |
| Proportional zur Anstrengung | Unverhältnismäßig zur Aktivität |
| Erholt über Nacht | Erholung dauert Tage/Wochen |
| Kein “Crash” danach | Symptomverschlechterung folgt |
Weitere Symptome
ME/CFS zeigt sich durch ein komplexes Symptombild:
Fatigue
- Tiefgreifende, nicht erholsame Erschöpfung
- Nicht vergleichbar mit normaler Müdigkeit
- Besteht seit mindestens 6 Monaten
- Deutliche Einschränkung des Aktivitätsniveaus
Kognitive Störungen
- “Brain Fog” – Gefühl wie in Watte gepackt
- Konzentrationsprobleme
- Gedächtnisstörungen
- Wortfindungsschwierigkeiten
- Verlangsamte Informationsverarbeitung
Schlafstörungen
- Nicht erholsamer Schlaf
- Einschlaf- oder Durchschlafprobleme
- Umgekehrter Tag-Nacht-Rhythmus
- Hypersomnie (übermäßiges Schlafbedürfnis)
Schmerzen
- Kopfschmerzen
- Muskelschmerzen
- Gelenkschmerzen
- Halsschmerzen, empfindliche Lymphknoten
Orthostatische Intoleranz
- Schwindel beim Aufstehen
- Herzrasen im Stehen
- POTS (Posturales Tachykardiesyndrom)
- Probleme bei längerem Stehen
Weitere Symptome
- Empfindlichkeit gegenüber Licht, Geräuschen, Gerüchen
- Temperaturregulationsstörungen
- Verdauungsprobleme
- Grippeähnliches Gefühl
Schweregrade
ME/CFS kann unterschiedlich schwer verlaufen:
Mild
- Etwa 50% Reduktion der Aktivität
- Oft noch arbeitsfähig (evtl. reduziert)
- Sozialleben eingeschränkt
Moderat
- Deutlich eingeschränkte Mobilität
- Arbeitsunfähigkeit häufig
- Benötigen Ruhephasen tagsüber
Schwer
- Überwiegend ans Haus/Bett gebunden
- Brauchen Hilfe bei Grundpflege
- Minimale Aktivität möglich
Sehr schwer
- Vollständig bettlägerig
- Können oft nicht sprechen
- Licht- und Geräuschempfindlichkeit extrem
- Benötigen Vollzeitpflege
Etwa 25% der Betroffenen sind schwer bis sehr schwer erkrankt.
Auslöser
ME/CFS beginnt häufig nach:
- Virusinfektionen (EBV, Influenza, COVID-19)
- Bakteriellen Infektionen
- Traumata oder Operationen
- Impfungen (selten)
- Extremem Stress
Die genauen Ursachen sind noch nicht vollständig verstanden. Die Forschung untersucht Zusammenhänge mit:
- Immunsystem-Dysregulation
- Mitochondrialer Dysfunktion
- Autoimmunprozessen
- Durchblutungsstörungen
- Neuroinflammation
Die Diagnose
Es gibt keinen einzelnen Test für ME/CFS. Die Diagnose erfolgt durch:
- Ausführliche Anamnese
- Ausschluss anderer Erkrankungen
- Erfüllung der diagnostischen Kriterien (z.B. Kanadische Konsenskriterien)
Wichtige Kriterien
- Deutliche Reduktion des Aktivitätsniveaus
- Post-Exertional Malaise
- Nicht erholsamer Schlaf
- Kognitive Störungen und/oder orthostatische Intoleranz
- Dauer mindestens 6 Monate
Leben mit ME/CFS
Pacing: Die wichtigste Strategie
Pacing bedeutet, die verfügbare Energie sorgfältig einzuteilen:
- Aktivitäten planen: Nicht alles auf einmal
- Pausen einhalten: Bevor die Erschöpfung kommt
- Grenzen respektieren: Nicht über Belastungsgrenze gehen
- Energiehaushalt führen: Wie ein Bankkonto
Die “Löffel-Theorie”
Eine hilfreiche Metapher: Man hat jeden Tag nur eine begrenzte Anzahl “Löffel” (Energie). Jede Aktivität kostet Löffel. Sind sie aufgebraucht, geht nichts mehr.
Hilfsmittel
- Rollstuhl für längere Strecken
- Duschhocker
- Thermoskannen am Bett
- Verdunklungsmöglichkeiten
- Gehörschutz
Unterstützung
- Pflegegrad beantragen bei Bedarf
- Schwerbehindertenausweis
- Haushalthilfe
- Psychologische Begleitung
Häufige Missverständnisse
”Das ist psychisch”
ME/CFS ist eine körperliche Erkrankung. Psychiatrische Behandlung allein ist nicht zielführend und kann durch erhöhte Aktivierung schaden.
”Sport würde helfen”
Graded Exercise Therapy (GET) – also ein aufbauendes Sportprogramm – kann ME/CFS-Patienten verschlechtern und wird von internationalen Leitlinien nicht mehr empfohlen.
”Du siehst doch gut aus”
ME/CFS ist eine unsichtbare Krankheit. An guten Tagen sehen Betroffene oft “normal” aus, obwohl sie schwer krank sind.
Aktuelle Forschung
Die Forschung zu ME/CFS hat in den letzten Jahren zugenommen – nicht zuletzt durch die Überschneidungen mit Long-COVID:
- Biomarker-Studien
- Immunologische Untersuchungen
- Bildgebung des Gehirns
- Stoffwechselstudien
- Genetische Forschung
In unserer Studiendatenbank finden Sie aktuelle Forschungsergebnisse.
Anlaufstellen
Medizinische Versorgung
- Spezialisierte Ambulanzen (selten)
- Hausärzte mit ME/CFS-Erfahrung
- Immunologen
- Neurologen
Selbsthilfe und Information
- Deutsche Gesellschaft für ME/CFS
- Fatigatio e.V.
- Lost Voices Stiftung
- Nicht Genesen – Selbsthilfe für Post-Covid und Post-Vac in Mecklenburg-Vorpommern
- Online-Communities
Fazit
ME/CFS ist eine schwere, oft unterschätzte Erkrankung. Betroffene verdienen Anerkennung, Forschung und angemessene Versorgung. Wer Menschen mit ME/CFS unterstützen möchte, kann mit Verständnis und Rücksichtnahme beginnen.
Beratungsgespräch
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